Helga stellt ihr feines Porzellan nur zu besonders feierlichen Gelegenheiten auf den Tisch. Mit zarten Rosenblüten ist das Service bemalt und hauchdünn sind die Ränder der Kaffeetassen gearbeitet, dass man sie kaum an den Mund halten möchte. Es ist ein Wunder, dass es den langen Weg aus Schlesien unbeschadet überstanden hatte. Denn mit ihm flüchteten Helgas Mutter und ihre älteren Geschwister nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Wenn Helga ihr Porzellan in Händen hält, denkt sie an diese schweren Zeiten, die sie nur aus Erzählungen kennt.
Heute ist einer der Tage, an dem Helga ihren Schatz auspackt. Heute hätten sie und ihr Manfred diamantene Hochzeit gefeiert. Hätten … denn Manfred ist bereits seit sieben Jahren tot. Helga deckt den Tisch mit 12 Tellern, 12 Untertassen und elf Tassen. Eine Tasse ging in dem Jahr zu Bruch, als ihr Manfred starb. Helga hatte sich dagegen entschieden, die Tasse zu ersetzen.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsre echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren.“
Als es an der Türe klingelt und Helga den Besuch hineinbittet, füllt sich das Wohnzimmer rasch. Bald sitzt Helga mit ihren Söhnen und deren Familien an der Kuchentafel mit den 12 Tellern, 12 Untertassen und elf Tassen. Zu elft essen sie Kuchen, trinken Kaffee und erzählen sich von heiteren und ernsten Erlebnissen mit Manfred. Es wird viel gelacht und so manche Freudenträne vergossen. Wehmütig und dankbar blickt Helga auf diese Zeiten zurück. Sie spürt: Das ist einer der besonderen Momente. Wie ein kostbares Geschenk wird sie ihn hüten und in ihrem Herzen bewahren. Das 12. Service bleibt unberührt – und doch ist der Platz nicht leer.
Ihr Pfarrerin Stefanie Probst-Wechsler